Umschriebene Entwicklungsstörungen in der Kindheit und Jugend
Einleitung
Kinder entwickeln sich unterschiedlich schnell. Manche lernen beispielsweise früher laufen, dafür fangen sie später an zu sprechen als andere – oder umgekehrt. Die meisten Kinder, die sich zeitweise in einem Bereich langsamer entwickeln, holen bald wieder auf und haben als Jugendliche und Erwachsene keine Schwierigkeiten mehr.
Bei manchen Kindern zeigen sich jedoch auffällige Entwicklungsprobleme, die für sie und ihre Familie sehr belastend sein können. Dann ist es wichtig, Fachleute zurate zu ziehen und das Kind gezielt zu fördern.
In diesem Thema geht es um „umschriebene“ Entwicklungsstörungen (früher auch „Teilleistungsstörungen“ oder „Teilleistungsschwächen“ genannt). Das heißt, ein Kind entwickelt sich im Großen und Ganzen normal, hat aber Probleme in einzelnen Bereichen wie Sprache, Motorik oder schulischen Fertigkeiten.
Entwicklungsprobleme, die durch Krankheiten, Hirnschädigungen oder Autismus-Spektrum-Störungen (tiefgreifende Entwicklungsstörungen) verursacht sind, werden in diesem Thema nicht behandelt.
Symptome
Umschriebene Entwicklungsstörungen können in drei Bereichen auftreten:
- Sprache
- Motorik
- schulische Fertigkeiten (Lesen, Rechtschreiben, Rechnen)
Ein Kind kann auch in mehreren dieser Bereiche Auffälligkeiten zeigen.
Kinder mit umschriebenen Entwicklungsstörungen sind genauso intelligent wie andere Kinder auch. Sie sind meist nur in einem Bereich beeinträchtigt – zum Beispiel nur beim Rechnen.
Ursachen
Umschriebene Entwicklungsstörungen hängen vor allem mit gestörten Reifungsprozessen in bestimmten Regionen des Gehirns zusammen. Bei der Entwicklung des Nervensystems spielt die genetische Veranlagung eine wichtige Rolle. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen (zum Beispiel eine zu frühe Geburt) können das Risiko für Entwicklungsstörungen erhöhen, sind aber eher selten bedeutend.
Eine umschriebene Entwicklungsstörung ist keine geistige Behinderung – und auch kein Zeichen einer psychischen Erkrankung oder Krankheit des Nervensystems. Sie lässt sich auch nicht durch Umwelteinflüsse wie fehlende häusliche Förderung oder schlechten Schulunterricht erklären. Allerdings können die Familie, der Kindergarten und die Schule beeinflussen, wie eine Entwicklungsstörung verläuft und wie belastend das Kind seine Einschränkungen erlebt.
Schwierige soziale und familiäre Umstände führen ebenfalls nicht zu einer umschriebenen Entwicklungsstörung: Auch bei Kindern, die in einem stabilen Umfeld aufwachsen, kann es dazu kommen. Entwicklungsstörungen sind also kein Zeichen dafür, dass Eltern in der Erziehung etwas falsch gemacht haben.
Häufigkeit
Es wird geschätzt, dass etwa 5 bis 8 von 100 Kindern eine umschriebene Entwicklungsstörung haben. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen.
Verlauf
Umschriebene Entwicklungsstörungen beginnen meist ab dem 2. Lebensjahr. Wann sie auffallen, hängt von der Art der Entwicklungsstörung ab. Sprachprobleme zeigen sich häufig im 2. und 3. Lebensjahr. Erste Anzeichen für motorische Probleme können im Alter von 3 bis 5 Jahren auftreten – eine Diagnose sollte aber nicht vor dem 5. Lebensjahr gestellt werden. Lese-, Rechen- und Rechtschreibprobleme zeigen sich meist in den ersten Schulmonaten. Diagnostiziert werden sie dann häufig in der zweiten Klasse.
Bei Kleinkindern legen sich Entwicklungsprobleme häufig wieder, denn manche Kinder entwickeln sich einfach etwas langsamer. Bleiben Sprachstörungen über das 3. Lebensjahr und motorische Probleme über das 5. Lebensjahr hinaus bestehen, halten sie wahrscheinlich länger an. Manche Schwächen können trotz Behandlung noch im Erwachsenenalter den Alltag erschweren. Durch eine gezielte Unterstützung können sich die Probleme im Kindes- und Jugendalter aber verringern.
Folgen
Wie sich eine umschriebene Entwicklungsstörung auswirkt, hängt sehr von ihrer Art und Stärke ab. So hat zum Beispiel eine leichte motorische Störung deutlich weniger Folgen als eine ausgeprägte Lese- und Rechtschreibschwäche.
Entwicklungsstörungen können das Selbstwertgefühl eines Kindes schwächen. Es spürt, dass es bestimmte Dinge nicht so gut kann wie andere und manchmal überfordert ist. Auch andere Kinder oder die eigenen Eltern können ihm das Gefühl geben, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Die Eltern fühlen sich ebenfalls oft überfordert.
Manche Kinder mit Entwicklungsstörungen sind reizbarer und unruhiger als andere und können sich schlechter konzentrieren. Sie sind oft auch impulsiver und haben häufiger Verhaltensprobleme. Zudem geben sie schneller auf oder vermeiden Tätigkeiten, die für sie schwierig sind. Manchen fällt es schwer, Freundschaften mit anderen Kindern zu schließen und zu pflegen – vor allem, wenn sie Hänseleien erleben oder von bestimmten Aktivitäten ausgeschlossen werden. Entwicklungsstörungen können auch das Risiko für psychische Probleme wie Angststörungen oder Depressionen erhöhen.
Manche Jugendliche haben Probleme, ihren Schulabschluss zu machen oder später im Beruf zurechtzukommen. Ihre berufliche Qualifikation entspricht nicht immer ihrer eigentlichen Begabung.
Diagnose
Ob die Entwicklung eines Kindes tatsächlich beeinträchtigt ist oder ob es sich in bestimmten Dingen einfach etwas langsamer oder eigenwilliger entwickelt als andere Kinder, ist manchmal schwer zu beurteilen. Bei einem Verdacht auf eine Entwicklungsstörung ist deshalb eine gründliche Untersuchung wichtig. Diese ist möglich in:
- einer spezialisierten kinder- und jugendärztlichen Praxis,
- einer speziellen Praxis für Sprach-, Stimm- und kindliche Hörstörungen (phoniatrisch-pädaudiologische Praxis); zusätzlich auch in einer logopädischen Praxis,
- einer kinder- und jugendpsychiatrischen oder psychotherapeutischen Praxis oder
- einem sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ).
Bei den Untersuchungen werden nicht nur die konkreten Beschwerden, sondern auch die gesamte körperliche und psychische Entwicklung des Kindes berücksichtigt. Gezielte Sprach-, Motorik- oder Lese- und Rechtschreibtests können die bestehenden Probleme eingrenzen. Um auszuschließen, dass körperliche oder psychische Krankheiten die Entwicklung verzögern, werden außerdem verschiedene neurologische und psychologische Untersuchungen sowie ein Seh- und Hörtest gemacht.
In die Untersuchung werden die Eltern einbezogen, manchmal auch Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte oder andere Bezugspersonen. Eine wichtige Rolle spielt zudem, wie sehr die Schwierigkeiten des Kindes seinen Alltag und das Familienleben beeinträchtigen – und nicht zuletzt, wie stark es selbst darunter leidet.
Leistungstests und psychologische Untersuchungen sind nie ganz genau: Gerade bei Kindern können die Ergebnisse von ihrer Tagesform abhängen oder davon, wie gut sie die Tests mitmachen und ob sie sich unter Druck gesetzt fühlen. Umso wichtiger ist es, dass sie von erfahrenen Fachleuten in einer geeigneten Umgebung untersucht werden: Dann ist dies meist kein großes Problem.
Die Diagnose „umschriebene Entwicklungsstörung“ sollte nur gestellt werden, wenn bestimmte Fähigkeiten des Kindes deutlich geringer sind, als es für sein Alter zu erwarten ist, und sie sich nicht durch etwas mehr Unterstützung schnell beheben lassen. Außerdem sollten diese Einschränkungen bereits länger bestehen.
Früherkennung
Bei den U-Untersuchungen in der kinder- oder hausärztlichen Praxis können schon früh Hinweise auf Entwicklungsstörungen und deren Folgen erkannt werden. Die Termine dienen außerdem dazu, die weitere Entwicklung des Kindes zu beobachten. Für Kinder bis 6 Jahre werden die U1 bis U9, für Jugendliche zwischen 12 und 14 Jahren die J1-Untersuchung angeboten. Einige Krankenkassen übernehmen auch die Kosten für die J2 für Jugendliche zwischen 16 und 17 Jahren.
Um anhaltende Probleme bei schulischen Fertigkeiten erkennen zu können, bieten viele Kinderärzte zusätzliche U-Untersuchungen für Kinder zwischen 7 und 10 Jahren an (U10 und U11). Die meisten Krankenkassen übernehmen die Kosten dafür, manchmal müssen sie jedoch selbst bezahlt werden.
Auch bei der Schuleingangsuntersuchung können Entwicklungsstörungen auffallen.
Wenn zu Hause, im Kindergarten oder in der Schule Entwicklungsprobleme auffallen, ist es sinnvoll, die Kinderärztin oder den Kinderarzt anzusprechen. Eltern können sich auch in der Kita oder Schule beraten lassen.
Behandlung
Welche Form der Unterstützung sinnvoll ist, hängt davon ab, welche Schwierigkeiten ein Kind genau hat, wie stark sie sind und wie sehr sich das Kind dadurch beeinträchtigt fühlt. Wenn es sich um leichte Einschränkungen handelt, reicht die Unterstützung durch die Eltern oft aus. Sie können beispielsweise mit dem Kind Sport machen oder es mit geeigneten Spielen, mit Basteln oder Vorlesen fördern.
Wenn die Probleme aber anhalten und das Kind stark belasten, ist eine umfangreichere Unterstützung nötig. Wichtig ist eine ausführliche Beratung durch Fachleute: Wie lässt sich ein gutes familiäres Klima schaffen? Wie können Eltern das Kind im Alltag fördern? Wie können sie und andere Bezugspersonen das Selbstwertgefühl des Kindes stärken? Was können sie vom Kind erwarten und einfordern?
Kinder mit motorischen, sprachlichen oder schulischen Entwicklungsstörungen können durch folgende Maßnahmen gefördert oder behandelt werden:
- Logopädie (Sprachtherapie)
- Ergotherapie
- Physiotherapie
- Heilpädagogik
- psychologische / psychotherapeutische Hilfen
- Motopädie
- feinmotorische Übungen (Graphomotorik)
- Lese-, Rechtschreib- und Rechenförderung
Wichtig ist, dass die Behandlung realistische Ziele hat und das Kind nicht überfordert. Sie sollte das Kind gezielt und dosiert fördern und zusätzlichen Stress vermeiden. Zu hohe Erwartungen können zu Enttäuschungen und Konflikten führen.
Eine Behandlung dauert oft Monate oder mehrere Jahre. Sie ist zwar keine Garantie dafür, dass alle Probleme verschwinden. Sie kann aber die Chancen verbessern, die Schwächen auszugleichen oder zumindest abzumildern.
Weitere Informationen
Diese Gesundheitsinformation stammt von einer deutschen Urheberseite und bezieht sich teilweise auf die Gesundheitsversorgung in Deutschland.
Nähere Informationen zur Gesundheitsversorgung in Österreich finden Sie HIER. Informationen zu Selbsthilfe(gruppen) in Österreich erhalten Sie HIER.
Einige Behandlungen und Unterstützungsmaßnahmen werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, manche müssen selbst bezahlt werden. Bestimmte Leistungen wie etwa eine Lerntherapie kann das Amt für Kinder, Jugend und Familie (Jugendamt) übernehmen.
In der Schule ist ein sogenannter Nachteilsausgleich möglich, bei dem zum Beispiel Einschränkungen bei der Notengebung oder in Prüfungssituationen berücksichtigt werden. Weitere Informationen zu Unterstützungsmöglichkeiten bietet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Die Haus- oder Kinderarztpraxis ist meist die erste Anlaufstelle, wenn man krank ist oder bei einem Gesundheitsproblem ärztlichen Rat braucht. In unserem Thema „Gesundheitsversorgung in Deutschland“ informieren wir darüber, wie man die richtige Praxis findet – und mit unserer Frageliste möchten wir dabei helfen, sich auf den Arztbesuch vorzubereiten.
Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen (BAG-Selbsthilfe), Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen (SES), unter Berücksichtigung umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES). (Interdisziplinäre S2k-Leitlinie, in Überarbeitung) AWMF-Registernr.: 049-006. 2022.
Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung (S3-Leitlinie, in Überarbeitung). AWMF-Registernr.: 028-044. 2015.
Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Therapie von Sprachentwicklungsstörungen (S3-Leitlinie). 2022.
Neuropädiatrische Gesellschaft der deutschsprachigen Länder (GNP). Definition, Diagnose, Untersuchung und Behandlung bei umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (UEMF) (S3-Versorgungsleitlinie). AWMF-Registernr.: 022-017. 2020.
Schlack HG, Esser G. Umschriebene Entwicklungsstörungen. In: Schlack HG, Kries R (Ed). Sozialpädiatrie. Berlin: Springer 2009. S. 157-187.
Straßburg HM, Dacheneder W, Kreß W. Entwicklungsstörungen bei Kindern. Praxisleitfaden für die interdisziplinäre Betreuung. München: Urban und Fischer; 2018.
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Gesundheitsinformation aktualisiert am 09. August 2023
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